Mittwoch, 22. April 2009
Verlustsache
Menschen verlieren Menschen. Andauernd, überall auf der Welt. Durch Krankheit, durch Unfälle, aber auch ganz banal wie z. Bsp. durch den Job des Partners am Ende der Welt und die Wochenendbeziehung ist irgendwann nur noch Kulisse, oder aber einfach im Getümmel eines Weihnachtsmarktes, bei einem Klassenausflug in der S- Bahn. Meistens finden sie sich wieder, manchmal nicht, manchmal erst Jahre später.

Ich habe mal meinen Sohn Karl verloren, auf einem Rummel, da war der knapp fünf.
Gott hatte ich Panik ! Gerade noch war er an meiner Seite, plapperte unentwegt auf mich ein und ich habe- ich schwöre ! - wirklich nur einen kurzen Augenblick woanders hingesehen- plötzlich war da kein Plappern mehr, der Kerl wie vom Erdboden verschluckt. Massen von Menschen, die sich in alle Richtungen zu bewegen schienen, aber kein Karl mehr und ich mittendrin. Nach hilflosen Augenblicken der Kopflosigkeit begann meine Ratio im Unterbewußtsein wieder zu funktionieren. Was tut man in einem solchen Augenblick ? Den gegangenen Weg zurückgehen bis zum letzten Ort, an dem man den Gesuchten das letzte Mal gesehen hat. Gut, habe ich gemacht. Kein Karl. Ich bin dann zum Ausgang des Rummels gegangen und habe die dort stehenden Ordner gefragt, ob sie einen kleinen Kerl alleine gesehen haben, so und so angezogen, ungefähr fünf Jahre alt.
Keiner hatte ihn gesehen. Zumindest haben die dann die Beschreibung per Funk an die anderen Ordner weitergegeben. Ein ziemlich schwacher Trost. Meine wieder aufsteigende Panik unterdrückend ging ich den Weg zum xsten Mal zurück, den ich mit ihm gegangen war in purer verzweifelter Hoffnung, daß Karl doch einfach irgendwo wieder auftauchen MUSSTE, ich klammerte mich an dem Gedanken fest.

Ich sah ihn schon von Weitem. Ein heulendes Häufchen Unglück an der Hand eines Polizisten, der anscheinend auch nicht wußte, wie er dem lauten Schluchzen begegnen sollte, das Karl in kurzen Abständen von sich gab, während er in den Pausen dazwischen anscheinend vergaß, Luft zu holen. Der Polizist wußte sich nicht besser zu helfen, als immer wieder stereotyp zu wiederholen " Wir werden ihn schon finden. " .
Es war ein Bild zum Gotterbarmen und ich schloß Karl überglücklich in die Arme, meine eigenen Tränen nur mit Mühe zurückhaltend.
Karl hatte noch lange Zeit danach schwer mit diesem Erlebnis zu kämpfen. Noch Monate später erzählte er Jedem bei passenden und unpassenden Gelegenheiten, wie er verloren wurde und daß er plötzlich ganz alleine war.
Inzwischen hat er das Erlebnis ganz gut verarbeitet, glaube ich, aber einschneidend war es allemal.

Soviel zu diesem Erlebnis. Aber was macht man, wenn man irgendwann merkt, daß man sich selber verloren hat ? Wenn man durch eine glückliche oder auch unglückliche Fügung- sei es der Tod eines geliebten Menschen oder die Trennung von einem solchen, sei es ein Unfall oder ein anderes einschneidendes Erlebnis- plötzlich für Bruchteile von Sekunden den Kopf bewegen muß, gedanklich und mechanisch, für einen kurzen Moment der Blick und die Wahrnehmung sich verändert UND man vielleicht auch noch so viel Sensibilität in sich hat, das überhaupt zu registrieren und- wenn die ureigensten Instinkte noch nicht ganz verrottet, sondern nur verschüttet sind- dann ein Nachdenkenn beginnt, nicht nur für den Augenblick, sondern weit darüber hinaus.
Und man beginnt zu fragen. Was tue ich ? Was tue ich nicht ? Warum mache ich das eine und lasse das andere ? Fragen nicht nur nach dem Was, vor allem nach dem Warum.
Und auf einmal erscheinen viele Dinge wenig bis gar nicht sinnvoll. Dinge die man getan hat, Dinge, die man gerade tut, tagtäglich, ohne besonders darüber nachzudenken, aber genau das ist wahrscheinlich der springende Punkt. Und vielleicht führt das Ganze auch zu den Fragen Was will ich ? Was tut mir gut ? Wer bin ich eigentlich ?
Und wenn man Pech hat (oder Glück, das ist eine Frage der Betrachtungsperspektive) merkt man vielleicht, daß man viele Dinge- in Vergangenheit und Gegenwart- aus Gründen gemacht hat bzw. macht, die mit einem selbst eigentlich gar nichts zu tun haben. Wobei eigentlich eher fremde Erwartungshaltungen, gelernte oder überlieferte Riten, gesellschaftliche Vorgaben oder aber einfach die Annahme fragwürdiger Vorbilder eine Rolle spielen, aber auch Dinge, die unwesentlich, klein und ungefährlich begonnen und irgendwann einfach ein Eigenleben bekommen haben, aber da hat man eigentlich schon nicht mehr wirklich selbst klar gedacht und entschieden.
Irgendwie wie in dem Film " Matrix" , wo die Menschen im Tiefschlaf in riesigen Kolonien liegen, künstlich ernährt werden und den Maschinen nur noch als Energiequelle dienen. Aber in Ihren Träumen leben diese Menschen ein ganz normales Leben, als Putzfrau, Anwalt, Programmierer, gehen jeden Abend nach Hause, morgens zur Arbeit. So irgendwie.
Und dann beginnt man vielleicht, diese ganzen Sachen, die mit einem selbst eigentlich nichts zu tun haben, abzukratzen. Es ist wie bei Schichten von Plakaten an einer Litfaßsäule, die im Laufe der Zeit immer und immer wieder übereinandergeklebt wurden und bei denen die Gegenwart die Vergangenheit überlagert, um dann auch zur Vergangenheit zu werden und mit der neuen Gegenwart überklebt zu werden, immer wieder. Würde man die alle abkratzen käme die Säule wieder zum Vorschein, so wie sie mal war, wie sie eigentlich ist. Aber bei einer Litfaßsäule macht das keiner.
Aber wenn man selbst damit anfängt- und da macht das schon gelegentlich Sinn- kommt darunter das zum Vorschein, was das vielleicht eigentlich Wesentliche ausmacht.
Aber wie geht? s dann weiter ? Jetzt hat man zwar seine Hülle irgendwie wiedergefunden, aber sich selber bzw. den Inhalt noch lange nicht. Soll man jetzt den Weg zurückgehen, den man gegangen ist in der Hoffnung, das Verlorene zu finden ? Oder dahin zurückgehen, wo man es das letzte Mal gesehen hat ? Und dann ?

Ich glaube, das ist irgendwie ganz anders als bei der Suche nach dem verlorenen Karl. Aber an einigen Stellen auch ganz genau so. Es gibt Menschen, die suchen andere ein Leben lang, Vermißte aus dem Krieg über das rote Kreuz, bis heute. Manchmal gibt es da so Geschichten, wo der Bruder die Schwester auf diesem Weg nach 60 Jahren wiedergefunden hat, schöne Geschichten, die Hoffnung machen. Hoffnung, um nicht aufzuhören zu suchen. Und wenn man das selber ist, den man sucht macht das die Suche nicht einfacher, aber auch nicht schwerer. Einfach nur bischen anders. Daran glaube ich jedenfalls.

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